Die Schmolche. Ein Märchen


Nur weil Märchen immer so beginnen, beginnt auch dieses so: 

Es war einmal. Aber dieses "einmal" ist gar nicht lange her. 

Es ist halt ein modernes Märchen. Und es begab sich auch ganz in der Nähe, in Baldham... Unsere Stadtschreiberin Christine Metzger hat es  für Sie aufgezeichnet: 


Also. Es war einmal.

Es war kurz nach Mitternacht, als er es hörte. Erst im Atelier. Dann im Wohnzimmer. Ein Wispern, Stimmen, mehr als eine. Einbrecher? Unmöglich. Die Haustür war abgeschlossen, keiner der Nachbarshunde hatte angeschlagen. Auch im Garten war alles ruhig. Nur eine Katze huschte vorüber, geduckt und zielstrebig auf dem Weg ins Feld zum nächtlichen Beutezug. 

„Jetzt dreh ich durch“, dachte er und ließ sich auf den Sessel fallen. „Jetzt hör ich schon Stimmen.“ War ja auch kein Wunder, nach diesem Tag, den er vergessen konnte. Total vergessen! Unproduktiv, frustrierend. Ein Alptraum für jeden Künstler. 

„Miteinander wohnen, Miteinander leben.“ In allen Variationen hatte er das Thema schon durchgespielt: Respekt, Freundlichkeit, Leben und Leben lassen, nachbarschaftliche Hilfe ... Tausende Gedanken waren durch seinen Kopf gejagt, dutzende Male war er zum Skizzenblock gelaufen. Aber er fand keine Form. Sah immer nur diese Wand, die er gestalten sollte. 13,40 x 6,40 Meter. 85,76 Quadratmeter weiße Fläche. 

„Sag’s du ihm.“ „Nein ich trau mich nicht.“ „Die Oma soll’s machen.“ „Ja, die Oma.“ „Aber Oma, sag ihm, nicht so wie der Frosch, der hat ja gar keine Beine. Wir brauchen Beine.“ „So wie die Ziege, so soll er’s machen.“ 

Sechs Stimmen. Sechs unterschiedliche Stimmen. Hörsturz, Tinitus. Morgen würde er seinen Arzt anrufen. 

Sein Blick glitt durchs Wohnzimmer und über die vielen Bronze-Skulpturen, die dort standen: Der Frosch, genial in seiner Abstraktion. Die Ziege mit dem keck erhobenen Kopf. Er erinnerte sich, wie sein Vater sie modelliert hatte, an die Spannung, mit der sie die Kiste aus der Bronzegießerei erwartet hatten. Wie oft waren sie hier gesessen an Abenden wie diesem und hatten sich unterhalten. Über das Thema, das sie beide am meisten beschäftigte: der Weg vom Gedanken zur Form. Gemeinsam hätten sie eine Lösung gefunden, einen Weg, der nicht als Sackgasse endete vor dieser grauenvollen weißen Wand ...

„Bist du der Steffen-Mensch?“

„Ja“, sagte er und konnte es nicht fassen, dass er sich auf das Spiel der Stimmen einließ.

„Die Eule hat uns zu dir geschickt, sie sagt, du kannst Gestalt geben. Wir brauchen deine Hilfe.“

„Aha“, sagte Steffen, kniff sich in den Arm und ging in die Küche, um ein Bier zu holen. 

Als er die Flasche ansetzte, war ihm, als höre er ein sehnsüchtiges Stöhnen und die ganze Situation erschien ihm so absurd, dass er die Bierflasche in den leeren Raum hielt und fragte: „Wollt ihr auch eins?“

„Oh, so gerne. Oder Wein. Ich liebe ein Gläschen Wein ...“

„Dann bedient euch. Bier in der Küche, Wein im Keller. Aber bevor wir trinken, solltet ihr euch erst mal vorstellen. Wie heißt ihr denn?“

„Schmolche, wir sind die Schmolche!“ Schrille, fröhliche Kinderschreie, sonore Bässe, jubilierende Frauenstimmen, es war ein ganzer Chor, der das Wohnzimmer erfüllte.

„Du meine Güte“, rief Steffen, “wieviele seid ihr denn?“ 

„18! 18 Schmolche. Wir sind alle da, die ganze große Familie. Kinder, Mütter, Väter, Onkel, Tanten und die Oma.“ 

Steffen stand der Mund offen. Und als er ihn wieder schloss sagte er: „Saft für die Kinder in der Küche.“ Und dann fügte er hinzu: „Beeilt euch, viel Zeit bleibt nicht. Noch eine halbe Stunde, dann ist es ein Uhr.“

Der Tumult, der daraufhin losbrach, war unbeschreiblich. Kreischen. Lachen, Gackern, Kichern in allen Tonhöhen und Tonlagen und so laut, dass Steffen befürchtete, dass im nächsten Moment 20 Nachbarn vor seinem Haus stehen und die Tür mit den Fäusten traktieren würden.

„Die Geisterstunde“, stieß eine Frauenstimme unter Prusten hervor. „Der Steffen-Mensch glaubt dran!“ Was sie weiter sagte, ging in der allgemeinen Heiterkeit unter und dann löste ein schrilles, fröhliches Kinderstimmchen das andere ab. 

„Es gibt keine Geisterstunde, Steffen-Mensch.“ 

„Wir sind schon den ganzen Tag da. Wir haben dich beobachtet.“ 

„Wie du gearbeitet hast.“ 

„Aber du hast gar nicht gearbeitet!“ 

„Du bist nur immer auf und ab gelaufen. Und hast dir mit der Hand auf die Stirn gehaut.“ 

„Und du hast geflucht, ich hab’s genau gehört.“ 

„Und Kaffee hast du getrunken, viele, viele Liter.“ 

„Und immer wieder aus dem weißen Schrank in der Küche was zu essen geholt.“ 

„Und immer wieder zu dem Block gelaufen und ein paar Striche gemacht. Und dann das Blatt zerknüllt und wieder geflucht...“

„Schluss jetzt, Kinder“, befahl eine sonore Stimme. „Entschuldige, Steffen-Mensch, sind halt Kinder.“

„Ich weiss“, sagte Steffen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich hab auch zwei.“

„Sie verstehen nicht, wie das ist, wenn man mit den Gedanken arbeitet. Aber ich versteh dich, Steffen-Mensch. Ich bin Maler. Mir geht es allerdings gerade anders als dir. Ich habe den Kopf voll Formen und keine Hand, die den Pinsel halten kann.“

„Und ich würde so gerne ein Gläschen Wein trinken. Aber zum Trinken braucht man einen Körper. Eine Zunge, um sich genießerisch über die Lippen zu fahren. Eine Hand, die das Glas zum Mund führt. Verstehst du?“

„Heißt das, ihr habt Durst und könnt nicht trinken?“ fragte Steffen.

„Keinen Durst, keinen Hunger, keine Schmerzen. Aber auch keine Hände, die einander zuwinken, streicheln und liebkosten können. Keine Beine, um Bälle zu kicken, keinen Körper, den man zum Schlafen auf die Bank betten kann. Das ist traurig. Sehr traurig. Und deshalb sind wir zu dir gekommen.“

„Wie seid ihr gekommen, ich meine, wie bewegt ihr euch?“ fragte Steffen.

„Wir schweifen und schweben.“

„Aber ihr hattet mal Körper, versteh ich das recht?Kaum war diese Frage gestellt, da brach wieder ein Tumult los und alle Schmolche schrieen durcheinander. Wie schön sie gewesen waren, wie groß und stark, wie prächtig ihr Haar, wie wohlgeformt ihre Körper. Die Kleinen fingen an zu streiten, wer am schnellsten laufen, am höchsten klettern, den Ball am weitesten schießen konnte, die Erwachsenen behaupteten, dass sie nie ein Gramm Fett zuviel und keine einzige Falte aufgewiesen hätten, die Männer beschrieben sich als tollste Hechte, die Frauen als makellose Schönheiten. 

Steffen ließ sie gewähren. Nahm einen Schluck Bier und überlegte. Sie schweifen, dachte er. Sie können wahrnehmen und sich artikulieren. Sie sind wie Gedanken, Gedanken, die eine Form suchen.

Irgendwann kehrte Ruhe ein und Steffen sagte: „So jetzt setzt euch mal ruhig hin – Entschuldigung, das könnt ihr ja nicht. Aber erzählen könnt ihr. Ich will eure Geschichte hören. Aber redet nicht alle durcheinander.“

„Die Oma, die Oma erzählt.“

Und so hub die Oma an: „Wir Schmolche sind ein uraltes Volk, das seit Jahrtausenden von den Menschen unbemerkt in Skandinavien lebt.“

Weiter kam die Oma nicht. „Das war unsere Heimat, aber wir waren immer unterwegs.“

„Wir sind schon mit den Normannen gereist.“ 

„Und mit Pferdekutschen und Schlitten. Wisst noch ihr damals ...“ Und nun erzählten sie. Von Reisen hierhin und dorthin. Von Abenteuern in fernen Ländern, von Streichen und Festen. Von Gelagen und Spielen. 

Steffen ließ sie gewähren. Er hatte die Augen geschlossen und bald konnte er die 18 Stimmen unterscheiden. Und langsam nahmen sie Gestalt an. Und er sah sie vor sich, jeden einzelnen. Eine fröhliche, lustige Schar. Jung und alt, eine große Familie, die stritt und sich versöhnte, jeden so sein ließ wie er war ... „Miteinander Wohnen, Miteinander leben“ dachte er, während die Schmolche redeten und redeten.

„Wir sind immer mit den Menschen gereist, mit ihren Kutschen und Zügen und Autos. Und Runda war immer dabei.“

„Ja, nur das letzte Mal, da sind wir nach Helsinki.“

Helsinki! Das konnte kein Zufall sein! Das war eine Fügung, ein Zeichen des Himmels. Die Wand, die weiße Wand, Helsinkistraße ... Steffen schlug sich auf die Schenkel und begann laut zu lachen.

Doch da wurde es plötzlich ganz still, und ein paar Schmolchkinder begannen zu weinen.

„Entschuldigung,“ stammelte Steffen. „Ich wollte euch nicht auslachen. Ich bin nur so glücklich ...“

„Nein, nein Steffen-Mensch, das hat nichts mit dir zu tun. Es ist nur Runda...“

„Wer ist Runda?“

Die Erklärungen waren wortreich, aber Steffen verstand nur, was ein Mensch eben so verstehen kann von einer Welt, zu der er keinen Zugang hat. Und so nannte er Runda für sich der Einfachheit halber ein Amulett, ein magisches Mittel, das den Schmolchen half, ihre Gestalt zu verlieren, so dass sie unbemerkt die Transportmittel der Menschen benutzen konnten. 

Runda war auf Schiffen gereist, erfuhr er. Getarnt als Auge in Galionsfiguren. Sie hatte als Schraube in Rädern von Kutschen geprangt, als dekorativer Knopf auf Kufen von Pferdeschlitten. In Zügen, Autos, Lastwagen und Bussen fand sich ein Platz für sie. Hatten die Schmolche ihr Ziel erreicht, näherte sich der Flinkste Runda, erhielt seine Gestalt, so dass er das Amulett greifen konnte, mit dessen Hilfe sich die Schmolche wieder in Körperwesen verwandelten. Jahrhundertelang war das gut gegangen, immer waren die Schmolche wohlbehalten von ihren Reisen in die Heimat zurückgekehrt. 

„Aber dann wollten wir mal was Neues ausprobieren und mit dem Flugzeug reisen. Wir haben uns eine nette Familie ausgesucht, die mit dem Auto zum Flughafen in Helsinki gefahren ist und nach München wollte. Runda war als Kofferanhänger getarnt. Nach der Landung sind wir hinter der Familie her zu einem Band, auf dem der Koffer kam, aber Runda war nicht mehr sie selbst. Sie war geschrumpft, ganz grau sah sie aus. Der Mann hielt sie für einen Kaugummi und schnipste sie mit dem Finger auf den Boden. Wir sind lange bei ihr gesessen. Aber sie hatte ihre Kraft verloren. Warum wissen wir nicht.“

„Hm“, sagte Steffen. „Vielleicht gibt es eine Erklärung. Alles, was an Bord eines Flugzeugs kommt, wird kontrolliert und mit unsichtbaren Strahlen durchleuchtet. Es ist gut möglich, dass die Magie der Technik unterlag.“

Die Schmolche schwiegen. Draußen wurde es schon hell und eine sichtlich zufriedene und satte Katze durchquerte den Garten. 

„Hilfst du uns? Gibst du uns Gestalt?“ fragte ein dünnes Stimmchen. 

„Ja“, sagte Steffen, „Ich seh euch schon vor mir. Ich bau euch ein Haus, in dem leben könnt. Ihr bekommt Körper mit Armen und Beinen, ihr könnt wieder spielen, malen, essen und trinken. Aber eins sag ich euch: Ich bin für die Gestalt verantwortlich. Und ich möchte keine Klagen hören über zu große Nasen oder zu dicke Bäuche. Kein Gejammer wie ‚ich bin zu groß, zu klein, zu alt, nicht schön genug ...’ Kein Gemecker über Knubbelknie oder eine Frisur, die nicht sitzt. Abgemacht?“

„Jaaaa“, jubelten die Schmolche und Steffen wünschte ihnen eine gute Nacht und kroch hundemüde ins Bett. 

Als er an diesem Morgen die Augen schloss, war sie wieder da, die weiße Wand. Aber sie war nicht mehr kahl. Er sah Räume und Treppen. Fenster und Balkone. Tische und eine Staffelei. Und er sah Gestalten. 18 kleine Figuren, rund, freundlich und fröhlich. Die Schmolche.


Ihr könnt sie kennenlernen: Ihre neue Adresse lautet Helsinkistraße 6 in der Messestadt Riem. Vielleicht hört ihr’s wispern. Oder lachen. Seht etwas huschen. Alles ist möglich im Reich der Schmolche. 

Übrigens: Auch Runda könnt ihr finden. Steffen hat sie der Oma anvertraut. Wer weiß, wenn viele Menschen lächeln beim Anblick der kleinen Gestalten, wenn sie innehalten und für einen kurzen Moment den Alltag vergessen - vielleicht gewinnt Runda ihre Magie zurück? 

Und die Schmolche können wieder auf Reisen gehen. Aber keine Angst. Sie werden immer wieder zurückkehren in die Helsinkistraße. Das haben sie ihrem Freund Steffen versprochen. Und Schmolche halten ihr Wort.